Wird das Leben in den Favelas von Rio de Janeiro für die Einwohner unbezahlbar?
Immobilienhype in den Favelas
Immobilienboom in Rios Armenvierteln
Nachdem sich die Sicherheitsbehörden im Zuge der Vorbereitungen für die Olympischen Spiele 2016 in Rio seit 2008 mit einem massiven Polizeiaufgebot anschicken, die ehemaligen No-go-Areas zu "befrieden", ist die Kriminalitätsrate in den Favelas zunächst zurückgegangen. Nun kontrolliert die Polizei das Gelände; nicht mehr Drogenbosse entscheiden, wer die jeweiligen Armenviertel in Rio de Janeiro betreten darf. Diese Entwicklung zieht eine neue Klientel an, die die fantastische Aussicht an den Berghängen einer kleinen Wohnung in der hektischen und verkehrsreichen Innenstadt Rios vorziehen, denn auch hier sind die Immobilienpreise explodiert. Im Schlepptau kamen Touristen, Auswanderer und internationale Organisationen, die ihr Interesse für die verschachtelten wilden Siedlungen an den malerischen Berghängen Rio de Janeiros entdeckten. Finanzkräftige Käufer schnappen sich die besten Grundstücke, Immobilienmakler eröffnen Büros, Hotels werden gebaut. Das führte bisher zu einer Verdreifachung der Mietpreise in den begehrtesten Favelas Rios in den letzten drei Jahren.
Immobilienhype - Wohnimmobilien liegen im Trend
Andreas Wieland, Ingenieur aus Österreich, hat im Jahr 2009 in der Favela Vidigal in Rio de Janeiro eine Parzelle erworben und in einen Nachtclub mit Hostel verwandelt. Heute feiern dort jeden Abend Hunderte Gäste bis zum Morgengrauen ausgelassen Party und genießen den atemberaubenden Ausblick. Die Veränderung sei dramatisch, jedoch nicht unbedingt zum Besseren sagt Wieland gegenüber THE GUARDIAN. "Als wir zuerst hierher kamen, lebten 15 Jungs mit schweren Automatikwaffen in der Nachbarschaft. Es war wie ein Kriegsgebiet. Kein Wasser, keine Elektrizität. Dann kam die Polizei und die Hauspreise gingen nach oben... vorher war es etwas entspannter, weil nicht ständig irgendwelche Immobilienspekulanten an deine Haustür geklingelt haben."
Wielands Viertel wurde plötzlich hip und extrem angesagt - nicht allein bei den gutsituierten Einwohnern Rio de Janeiros. Weniger als 100 Meter entfernt ist ein Hotel im Bau, das von zwei der reichsten Einwohner Rios finanziert wird. Ein Rechtsanwalt aus São Paulo hat drei Grundstücke in der Nachbarschaft erworben. Man munkelt, dass auch die Hollywood-Schauspieler Bratt Pitt und Angelina Jolie in der Nähe investiert sind.
Wieland hatte seinerzeit 34.000 Real (etwas über 10.000 Euro) für seine Immobilie bezahlt. Heute - so sagt er - bekomme er Angebote in Höhe von einer Million Real. Die dramatische Wertsteigerung hat nun dazu geführt, dass er einen Rechtsstreit mit dem früheren deutschen Eigentümer führen muss, der behauptet, das Grundstück nie verkauft zu haben. Abgesehen von der paramilitärischen Aktion gegen die Drogenbanden passiert in den Armenvierteln Rio des Janeiros dasselbe wie bei der Gentrifizierung ursprünglich weniger beliebter Stadtviertel in New York, London, Berlin und Peking. Dies betrifft allerdings nicht alle Favelas in Rio de Janeiro gleichermaßen. Trotzdem haben sich die Mietpreise für eine Zwei-Zimmer-Wohnung auch in den noch wenig von Gentrifizierung betroffenen Nachbarschaften im letzten Jahr verdoppelt.
Geld strömt in Rios Favelas
Zwar haben die Stadtentwickler ambitionierte Pläne zur Verbesserung der Situation in Rios Favelas. Die Prioritäten, die hier gesetzt werden, decken sich jedoch nicht unbedingt mit den Bedürfnissen der Bewohner. So verfügt die bekannte Favela Rocinha jetzt über eine Bücherei, einen Tennis-Platz und eine Beton-Brücke zum Sport-Zentrum der Gemeinde, die vom berühmten brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer entworfen wurde. Aber nichts wurde am stinkenden offenen Abwassersystem getan, das die dicht besiedelte Favela durchzieht und bei jedem Starkregen überläuft. Bildung und Gesundheitswesen befinden sich ebenfalls auf unterstem Niveau. Tuberkulose und Dengue-Fieber grassieren; noch immer leben viele Bewohner in zusammengezimmerten Baracken zum Teil ohne Wasserversorgung.
"Die Bücherei und die Brücke sind schön und gut, aber man muss fragen, ob dies die sinnvollste Nutzung sozialer Ressourcen ist, so lange die Kinder immer noch in Dreck und Fäkalien spielen", sagt Lea Rekou, Koordinatorin der Nichtregierungs-Organisation "Green my Favela", die sich zum Ziel gesetzt hat, in Zusammenarbeit mit der Stadt Rio Müllplätze in Gemüsegärten zu verwandeln. Ähnlich sieht es in im Complexo do Alemão, dem "Komplex der Deutschen" im Norden Rio de Janeiros aus. Das Wohngebiet entstand, nachdem ein Mann aus Polen, der wegen seiner weißen Hautfarbe alemão, der Deutsche, genannt wurde, Anfang des 20. Jahrhunderts massiv Grund und Boden rund um einen der Hügel kaufte. Weitere Migranten aus dem armen Hinterland auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben siedelten sich an.
Nach offiziellen Zahlen leben rund 70.000 Menschen im Complexo do Alemão in Rio de Janeiro. Einwohner schätzen diese Zahl jedoch auf mehr als 150.000. Einige meinen, die Regierung wolle die Einwohnerzahlen bewusst klein halten, um die Statistiken gut aussehen zu lassen, was die Anzahl der Krankenhäuser und Schulen betrifft.
Vor gut zwei Jahren wurde eine Seilbahn mit sechs Stationen im Complexo do Alemão eingeweiht, die sich zu einer der meistbesuchten Touristenattraktionen in Rio de Janeiro entwickelt hat. An der Endstation Palmeiras herrscht Jahrmarktstimmung trotz der Gegenwart der Polizisten der Unidade de polÍcia pacificadora Fazendinha (UPP), der »Befriedungspolizei« mit ihren großen Sturmgewehren und Handfeuerwaffen.
Durchschnittlich 2.000 Besucher Rio de Janeiros genießen die Gondelfahrt pro Tag; am Wochenende sind es rund 3.500, die den Ausblick bewundern und Fotos machen vom schier endlosen Häusermeer, das sich auf den Hügeln rund um Rio erstreckt. Dazu gehören nicht nur die Gringos, wie man hier die internationalen Touristen nennt, sondern auch die wachsende brasilianische Mittelklasse aus anderen Regionen des Landes oder aus den »besseren« Vierteln von Rio de Janeiro.
Was geschieht nach den Großereignissen?
Nur wenige Schritte von der Station Palmeiras den Hügel hinunter sind bereits keine Ausflügler mehr zu sehen. Kleine Werkstädte, Gemüse- und Obstläden, Bäckereien und Bars, aus denen laute Musik dröhnt, beherrschen das Bild. Dazwischen immer wieder Polizisten-Trupps der UPP, die einen nervösen Eindruck machen. Das Misstrauen gegenüber der Polizei, die wie eine Besatzungsmacht auftritt, ist greifbar, liegt aber nicht nur am martialischen Auftreten der Sicherheitskräfte, die es mit Recht und Gesetz selbst oft nicht genau nehmen.
Die Gangs sind längst nicht komplett aus den durch die Polizei kontrollierten Favelas verschwunden. Die Bewohner stehen noch unter genauer Beobachtung, wie sie sich gegenüber der UPP verhalten. Es wird vermutet, dass, sobald die internationalen Spiele vorüber sind, das Interesse an einer dauerhaften Befriedung der Armenviertel in Rio de Janeiro beendet ist. Die Fortführung der Maßnahmen könnte zu langwierig, komplex und teuer werden. Dann eroberen sich die Banden verlorenes Territorium zurück. Niemand wolle dann mit der UPP kooperiert haben.
In der Zwischenzeit sind weitere Seilbahnen geplant. Eine in Providencia, der ältesten Favela Rio de Janeiros, die bereits fast fertiggestellt ist. Eine weitere soll in Rocinha gebaut werden. Ob das Geld hier richtig eingesetzt ist und wie es nach den Olympischen Spielen mit den Armenvierteln in Rio de Janeiro weitergeht, lässt sich kontrovers diskutieren.
Einige Bewohner der Favelas in Rio de Janeiro profitieren jedoch auch von den gestiegenen Preisen: Viele planen, Übernachtungsmöglichkeiten für die erwartete Gästeflut anzubieten. Manch einer hat deswegen extra seiner Hütte ein weiteres Stockwerk aufgesetzt - für einen großen Schlafraum mit Etagenbetten und einen atemberaubenden Blick auf Rio.